Euro-Islam, Abb.: amazon.com

Euro-Islam, Abb.: amazon.com

Der Begriff Euro-Islam war vor einigen Jahren heftig in der Diskussion. Doch viele fragen sich, was genau man darunter zu verstehen habe. Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, den Initiator dieser Idee zur Lösung eines Zivilisationskonfliktes, wie er es selbst einmal formuliert hat (Primus 2009), und damit den Schöpfer des Begriffs zu Wort kommen zu lassen.

Der bekannte, 1944 in Damaskus geborene, in Deutschland bis zu seiner Emeritierung 2009 lehrende Politkwissenschaftler Prof. Bassām (bin Muḥammad Taisîr Banu_ṭ-) Ṭībī prägte viele wichtige Begriffe der Islam-, Migrations- und Integrationsdebatte (mit). Darunter sind z.B. „Leitkultur“ (s. „Europa ohne Iden­tität“ von 1998), „Parallelgesellschaft„,  „Scharia-Islam“ und der hier zu eruierende „Euro-Islam„. Etliche seiner Veröffentlichungen beschäftigen sich – teils neben anderen Themen – mit diesem Begriff, indem der Autor dem Leser seine Gedanken von den verschiedensten Richtungen her nahebringen möchte. Letzterer vermißt dann eventuell eine komprimierte Zusammenstellung der wichtigsten Thesen und Forderungen aufgrund dieser Gedanken zum Euro-Islam. – An dieser Stelle soll ein Annäherungsversuch zur Definition unter- nommen werden.

Die „Moderne„, mit der sich auch die islamische Welt ausein- anderzusetzen hat, teilt Ṭībī zum besseren Verständnis seiner Position ganz grob ein in ihre zwei wesentlichen Aspekte, die sie aber nur zusammen ausmachten:

Einmal sei da die „in­stitutionelle Moderne„, sie beziehe sich auf  Wissenschaft, Technik, die traditionellen Lebensbe­reiche etc.

Dann gebe es die „kulturelle Moderne„, gekennzeichnet durch [Aufklärung], die freiheitlichen Grund- und [Allgemeinen] Menschenrechte, die sich z.B. auch in Säkularität (gepaart mit Religionsfreiheit), Pluralismus und Forschungsfreiheit widerspiegeln, und Demokratisierung, Rechtstaatlichkeit, Chancengleichheit, etc.pp. mit einbegreifen.

Viele Muslime träumten aber den Traum von der halben Moderne: d.h. von den beiden erwähnten zusammengehörigen Aspekten wünschten sie und akzeptierten sie für sich nur den ersteren, wehrten sich aber – teils vehement – gegen den zweiten. [Zu den Gründen s. https://mephistohinterfragt.wordpress.com/demokratie-und-ihre-nor- men-sirk/ sowie https://mephistohinterfragt.wordpress.com/%E1%B8%A5adi%E1%B9%AF-kompilation/]. Das absolute Extrem in dieser Hinsicht stellt etwa der IS-Terrorist dar, der einem rigiden Islambild seiner Vorstellung von der ursprünglichen Gemeinde – umma (dieser arabische Begriff für „Gemeinschaft“ tritt auch in anderen, nicht religiösen Zusammenhängen auf!) – in Medina zu Lebzeiten des Religionsgründers Muḥammad im 7 Jh. (n.u.Z.) anhängt, dieses mit Gewalt den Menschen in den von der Terrororganisation eroberten Gebieten aufoktroyieren will, selbst aber die technischen und anderen Annehmlichkeiten der modernen Welt wie Kühlschrank, Flugzeug, Mobiltelefon, GPS und dergleichen mehr bis hin zu den aktuell modernen Waffen gerne und ausgiebig nutzt.

Dadurch daß Muslime diese theoretische Scheidung wegen der untrennbaren Verquickung beider Aspekte im Alltag sowieso nicht praktizieren könnten, führe ihre Situation einerseits zu Frustrationen und andererseits, da jene diese Trennung im Kopf aber dennoch als Immigranten, Asylanten etc. in den sogenannten Westen mit sich transportierten und dort zu etablieren versuchten, komme es zu den wahrgenommenen (Anpassungs-)Schwierigkeiten, der Entwicklung von Parallelgesellschaften bzw. –  teils auch die öffentliche Ruhe und Ordnung störenden – Auseinandersetzungen zwischen den zu wandernden Muslimen, welche dieser Weltsicht anhingen, und der einheimischen westlichen Bevölkerung, die mit der „Moderne“ in ihrer Ganzheit nicht nur aufgewachsen ist, sondern aus deren Gesellschaft sie sich über Jahrhunderte auch entwickelt hat.

Ṭībī kritisiert damit einmal nicht die jeweils aufnehmende Gesellschaft, die z.B. zu wenig Willkommenskultur zeige oder was dergleichen schon angeführt worden ist, sondern eine gewisse – unangebrachte – Sicht auf die Wirklichkeit auf Seiten muslimischer Zuwanderer.

Kurz zusammengefaßt bedeutete Euro-Islam demnach, sich als Muslim zunächst des Traums von der halben Moderne bewußt zu werden und ihn abzulegen und dann, die mit den Anforderungen der kulturellen Moderne einhergehenden Aspekte in den Islam zu inkorporieren und gleichzeitig damit inkompatible Teile als historisch bedingt zu erklären und sich davon zu verabschieden, so daß der Islam dann mit den europäischen Basiswerten (vgl.u.) vereinbar wird.

Europäern und insbesondere den Deutschen empfiehlt Ṭībī dagegen, die eigenen Werte wert zuschätzen und nicht einfach deren Schmälerung oder Aushöhlung zugunsten einer kulturrelativistischen Multi-Kulti-Haltung, einer sinnentleerten Wertebeliebigkeit  hinzunehmen. Dazu gehöre auch, zu den eigenen kulturellen Errungenschaften zu stehen und aus der aufklärerischen säkularen Tradition Europas ein neues Selbst­bewußtsein zu entwickeln. Man solle – auch und gerade gegenüber Muslimen – mehr demokratische Streitkultur wagen,  fundamentalistischen und Ğihâdisierungstendenzen nicht mit falsch verstandener Toleranz begegnen und durch deren Verharmlosung eine Auseinandersetzung damit aus dem Weg gehen. Falsch sei demnach auch die Stigmatisierung kritischer Denker und Warner [womit der Autor aufgrund seiner letztjährigen enttäuschenden Erfahrungen hauptsächlich auf sich selbst anspielt].

Den von ihm vertretenen „Kultur­plu­ralismus“ (neben dem im politischen Bereich) will er als gänzlich andere Konstruktion verstanden wissen als ihn „Multikulturalismus“ und  „Kulturrelativis­mus“ darstellen.  Ihm zufolge ist „Vielfalt im Rahmen eines gesellschaftlichen Miteinanders der Kulturen nur mit einer verbindlichen Einigung auf kulturübergreifende, universell geltende Basiswerte möglich“ (20083, S.30), womit er die viel zitierte „Leitkultur“ meint. Sie habe jeder zu akzeptieren, der – auch als Muslim – in Europa leben wolle. An dieser müsse sich der Euro-Islam orientieren, denn damit werde dem (muslimischen) Migranten eine „Bürgeridentität“ angeboten, die ihm zur Integration verhelfe. Für den Schulunterricht bedeutete dies die Einführung eines religionsneutralen Werteunterrichts [in manchen Bundesländern bietet Derartiges bereits das Fach Ethik].

Im Sinne der Europäisierung tritt Ṭībī nämlich auch für die schaffung der „Citoyenne“ (Bürgerschaft im Sinne der Annahme von Werten eines – europäischen! – Gemeinwesens) ein, die nicht (!) mehr in gemeinsamer Ethnie (oder „Rasse“), Herkunft, Sprache etc. gegründet ist: Schluß mit der neuroti­schen Nation! fordert der Politologe damit.

Dagegen sei der überkommene klassische Islam – das, was Ṭībī  mit Scharia-Islam umschreibt – ein Integrationshindernis, nicht vereinbar mit Demokratie und den Allgemeinen Menschenrechten. Er erlaube einem Muslim nicht, sich einen Nichtmuslim zum Vorbild zu nehmen bzw. sich an dessen Wertvorstellungen, die die europäische Gesellschaft geprägt haben, zu orientieren, sofern sie im Vergleich zu den eigenen auch nur minimal differieren. Im Gebiet der Nichtmuslime lebt er in der Ausnahmesituation der Diaspora, kann und soll sich abgrenzen und möglichst die eigenen auf dem Islam basierenden Überzeugungen propagieren (d.h. daʽwa, also Missionierung zu üben).

Eine Art „Sprungbrett“ bei der Schaffung des „Euro-Islam“ biete hier die gewachsene Einteilung des Islams in ʽibâdât und muʽamalât. Ṭībī nennt den ersten den spirituellen Teil. Man kann folgern, daß dieser Bestand haben könne. Doch wäre die Umschreibung mit „Kultus und rituelle Pflichten“ zutreffender und wirft damit ein Problem auf: denn in diese Kategorie fällt ebenso mit den Allgemeinen Menschenrechten und europäischen Werten Kollidierendes wie z.B. das (betäubungslose) Schächten, die Beschneidung, die in einigen Gegenden sogar immer noch praktizierte weibliche Genitalverstümmelung und je nach Glaubensrichtung innerhalb des Islams sogar der Ğihâd selbst! Die muʽamalât umfassen die öf­fentlich-, privat­- und strafrechtlichen Normen, den alltäglichen Verhaltenskodex. Eine weitere Differenzierung wäre hier also noch vonnöten.

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Literatur:
Die islamische Herausforderung. Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts, Darmstadt 20083
Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Funda-menalismus, Berlin 1999
Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Berlin 19923
Europa ohne Identität?, München 1998
Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart/München 2002
Euro-Islam. Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, Darmstadt 2009
Der neue Totalitarismus. „Heiliger Krieg“ und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004
 

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Nicht zu verwechseln ist Islam-Reform mit Strömungen innerhalb der umma wie etwa des späteren 19.Jh., bei denen es um die Re-formierung, d.h. Rückbesinnung auf die ursprüngliche umma zu Lebenszeiten des Propheten und die gerade nicht zeitgemäße versuchte Angleichung an jene Zeit im Widerspruch zu den inzwischen vollzogenen Entwicklungen ging, wie schon von Bassām Ṭībī eingangs erwähnt.

 

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Imam der Moschee von Penzberg, B. Idriz, Photo: Abendzeitung-München

Imam der Moschee von Penzberg, B. Idriz, Photo: Abendzeitung-München

Inwiefern der Penzberger Imâm B. Idriz, welcher in München das Projekt ZIE-M (Zentrum für Islam in Europa – München), im Laufe des dagegen angestrengten Bürgerbegehrens umbenannt in: MFI (Münchener Forum für Islam), verwirklichen möchte, diesen Sinn mit seiner „Was ist der ,Euro-Islam‚“ (vgl.: http://www.islam-penzberg.de/185601/229901.html), seit dem 27.5.2014 neu betitelt als „Was ist der ,Islam im europäischen Kontext?'“ (http://www.islam-penzberg.de/?p=1000 vom 27.5.2014, wobei es dennoch weiterhin um den „Euro-Islam“ geht) trifft oder doch nur einen wirkungsvollen, für europäische Nicht-Muslime eher positiv besetzten Begriff aufgreift, um ihn mit anderen Inhalten zu füllen, mag der Leser selbst entscheiden. – Das Projekt MFI scheint inzwischen gescheitert.

Yûsuf al-Qaraḍâwî (Yusuf al-Qaradawi), middleeastmonitor.com

Yûsuf al-Qaraḍâwî, Photo: middleeastmonitor.com

Zur Beziehung zwischen dem B. Idriz und dem tonangebenden Mitglied der Muslim­bruderschaft, Yûsuf al-Qaraḍâwî (*1926, landläufig: Yusuf al-Qaradawi), s. http://jacquesauvergne.wordpress.com/2009/09/27/141/!

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Überreichung des ersten Teils des neu erarbeiteten Tafsîrs durch den Auqâf-Minister an Präsident Dr. al-Asad, Photo: SANA

Überreichung des ersten Teils des neu erarbeiteten Tafsîrs durch den Auqâf-Minister an Präsident Dr. al-Assad, Photo: SANA

Äußerst bemerkenswert ist, wenn man die Tagespresse (SANA) – insbesondere in arabisch – verfolgt, daß der syrische Staatspräsident, Dr. Bašâr al-Assad der säkularen Ausrichtung seiner Partei (Baʽṯ!) gemäß eine [an sich längst überfällige]  Islam-Reform im Land anzustoßen versucht. Man fühlt sich in mancher Hinsicht an den von Prof. Ṭībī vorgestellten Reform-Islam erinnert. Und doch handelt es sich um eine ganz eigene Herangehensweise:

Schon die gesellschaftliche Herausforderung infolge des teils jahrelangen verheerenden Einflusses extremistischer Terrororganisationen  in Gebieten unter zeitweiliger Kontrolle dieser Terroristen auf  die Einwohner, vor allem im Kindes- und Jugendlichenalter, machen eine allumfassende Begegnung dieser unheilvollen Einwirkung dringend notwendig. Darauf hatte der syrische Präsident schon früh in Interviews und Reden sowie bei Empfängen hingewiesen.

Am deutlichsten zeigt sich die Ernsthaftigkeit dieser Bemühung, welche sich der Mammutaufgabe der Wiedereröffnung des im frühen 9.Jh. geschlossenen sog. „Tores der Bemühungen“ (arab.: bâb al-iǧtihâd) stellt, in der Herausgabe des vierbändigen Tafsîr-Werkes von Auqâf-Minister Dr. Muḥammad ʽAbdus-Sattâr as-Sayyid Anfang August 2017 mit dem Titel: Buch der umfassenden Interpretation, arabisch:  كتاب التفسير الجامع (https://www.sana.sy/?p=602647). Sie hat zudem den Vorteil, daß sie den in den gut sieben Kriegsjahren in Syrien terroristisch vorgehenden Extremisten mit der Neubeschäftigung mit dem Koran die Rechtfertigungsgrundlage für ihr Tun entzieht.

Diese Herangehensweise stellt einen mutigen Bruch mit der bisher geübten (menschengemachten) Tradition dar, welche seit dem 9. Jh. Muslime zum taqlîd verpflichtet, d.h. dazu, den Lehren der Altvorderen, die die Inhalte des Islamischen Rechts (I.R.) bis zum 9.Jh. maßgeblich erarbeitet haben, zu folgen und zwar bilâ kaifa, d.h.: ohne [nach dem] wie zu fragen, sprich ohne sich über einen Sachverhalt selbst [noch zweifelnde] Gedanken zu machen. Islamgelehrte der Gegenwart wie z.B. Muftîs geben über die Inhalte des I.R. Auskunft z.B. in Antworten auf Alltagsfragen, die an sie von Muslimen herangetragen werden, fatwâ (Rechtsgutachten) genannt. Eigene [Verstandes-]Entscheidungen] des Gläubigen zu islamischen Rechtsquellen bzw. Fragen, die das I.R. betreffen (Näheres dazu im Vorwort zu https://mephistohinterfragt.wordpress.com/%E1%B8%A5adi%E1%B9%AF-kompilation/), gelten demnach als ra´î, (bloße) Meinung im Sinne von Anmaßung, und Neuerung (bidʽa), wenn sie mit den Lehren der traditionellen Auslegung nicht übereinstimmen, welche damit nahe an Apostasie (ridda) heranrückt.

Bei der Vorstellung des Werks mit Signierstunde am 6.8.2017 in der Nationalbibliothek in Damaskus wies Minister Dr. as-Sayyid in einer Rede darauf hin, daß die überkommenen Tafsîr-Arbeiten von Gelehrten geleistet wurden, die als Menschen ihrer Region und Zeit und dem dazugehörigen geistigen Horizont tätig waren. Seither sei jedoch die Entwicklung in der Welt fortgeschritten, der menschliche Horizont habe sich erweitert, die Welt habe sich verändert. Auch sei der Koran nicht nur für die Zeit und ihre Menschen bestimmt gewesen, in der er herab gesandt worden sei, sondern habe eine weitergehende, eine kontinuierliche Bedeutung. Demnach müsse man in der Gegenwart den gottgegebenen Verstand benutzen und sich ernsthaft um eine zeit­ge­nössische und aktuelle, neuzeitliche Interpretation bzw. Auslegung (d.i. tafsîr) bemühen, die mit den seither erfolgten Entwicklungen Schritt hält.

Ebenfalls sei es wichtig, dem Terrorismus, Radikalismus und Extremismus, der sich auf die traditionelle Auslegung stützt,  mit einem neuen Ansatz zu begegnen, der auf Versöhnung ausgerichtet ist. Das könne eine Neubeschäftigung mit dem Koran leisten, die den eigentlichen Kern, seine Essenz herausarbeite, ohne von vorgefaßten Meinungen und Urteilen bei der Herangehensweise bestimmt zu sein.

Den eingeschlagenen Weg ist die syrische Regierung die nächsten Jahre über konsequent weitergegangen, wie im Syrien-Thread zu verfolgen ist.

Im Gefolge der Wiedereinnahme des Sitzes Syriens innerhalb der Liga der Arabischen Staaten im Frühjahr 2023 bot sich dann die Gelegenheit für die eigene Islamfreform in einem größeren Kreis zu werben, wie etwa auf und im Umfeld der der 34. Konferenz des Obersten Rates für Islamische Angelegenheiten in Kairo zum Thema „Cyberspace und moderne Mittel des religiösen Diskurses“ am 9. und 10.9.2023 (s. Syrien Teil XV).

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